Im Selfierausch: Der Erlebnishunger unserer Gäste. Ein Essay
Noch vor kurzem haben wir Europäer uns gefragt, warum Asiaten immer Fotos von sich vor Sehenswürdigkeiten machen. Heute machen wir genau das Gleiche – mit Selfie-Verlängerungsstab oder ohne: Die Community auf Instagram und Facebook braucht frische Bilder oder anders gesagt: ortsbezogene Bildfakten. Nie war persönliche Echtzeit-Reiseauskunft so einfach wie heute.
Doch wann erwischt man im richtigen Leben den Strand menschenleer? Wie weit muss man den Ausschnitt eingrenzen, um weder den eigenen noch die Bierbäuche der anderen auf dem Bild zu haben? Dass die schönsten Aufnahmen idyllischer Orte inzwischen plattgetretene Locations des Massentourismus sind, ist ein Argwohn. Angesichts von Games und erweiterten Realitäten fragt man sich, ob man mit der virtuellen Vorstellung erholungstechnisch nicht besser bedient ist? Studien belegen, dass auch Fototapeten die beabsichtigte entspannende Wirkung von Pflanzen erzeugen. Wozu also in die Natur fahren, sich Hitze und Gefahren aussetzen, wenn ein paar raumhohe Pflanzenbilder die Wirkung hier und jetzt erzeugen?
Reale Erlebnisse braucht es trotzdem immer. Die Community hat dafür gewisse Plätze als ein Must-See deklariert. Und was die Community für schön bestimmt und entsprechend überrennt, hat sich im Multi-Channel-Medienkonsum vom Trip-Advisor bis zum Influencer für eine wachsende globale Mittelschicht potenziert. Es ist an idyllischen Orten nicht mit weniger Touristen zu rechnen. Aber vielleicht mit anderen.
Lifestyle vs. lokale Storys
Dass nichts mehr so sein muss, wie es die gesunde Logik und regionale Learnings bekunden, versteht sich in der erschwinglichen Globalisierung und permanenten Vernetzung von selbst. Die Kinder unserer Nachbarn haben in Dubai das erste Mal auf Skiern gestanden und fanden eine Skihalle in einer Wüstenstadt nicht ungewöhnlicher als in Niedersachsen an der Autobahn. Um solcher Entwurzelung entgegenzuwirken, subventionieren Länder wie die Schweiz ihre idyllischen, aber unprofitablen Höfe, Dorfbrunnen und Ländereien als schützenswerte Kulturlandschaft. Im Norden Vietnams führen Bauern ihr Handwerk und Dorfleben für Touristen so authentisch wie möglich weiter, um etwas Geld zu verdienen und die Landflucht der nächsten Generation zu vermeiden. Die Konzepte sind sozialpolitische Pflicht, aber im global vernetzten 21. Jahrhundert eben auch nur Kulisse oder Abbild einer vergangenen Welt, die wir uns noch als Kunstform leisten. Wieso wundert es uns dann, wenn umgekehrt eine Geschichte über einen Ort stärker wird
als er selbst? Bei Dubrovnik mag es verwundern, hätte die Stadt, die aus einem Stein gehauen zu sein scheint, genug eigenes Begeisterungspotenzial, und doch war es vor allem die „Game of Thrones“-Serie, die diese Stadt bei den Digital Natives und Medienjunkies aufs relevante Set katapultiert hat.
Der Baedeker-Reiseführer teilt das Brockhaus-Schicksal. Selbst Geschichte verkauft sich heute besser mit konsumorientiertem Storytelling und hat morgen noch mehr Chance als immersive Experience. Der Schritt vom Kopfhörer zur Augmented-Reality-Brille erscheint gering.
Was die Community für schön bestimmt und entsprechend überrennt, hat sich im Multi-Channel-Medienkonsum vom Trip-Advisor bis zum Influencer für eine wachsende globale Mittelschicht potenziert.
Multisensuelle Erfahrungen finden sich heute im Ausstellungsdesign, spannende Interaktionen gestaltet die Gamingbranche, personalisierte Erlebniswelten begegnen uns im Multichannel-Shopping, Anwendungsbezug erleben wir unter der Virtual-Reality-Brille, Kreativität und Storytelling entspinnen sich auf Youtube. Demgegenüber war der Wunsch, sich ein eigenes Bild zu machen, seit jeher Antrieb der Reiselust.
Trend und Gegentrend
Je virtueller Menschen miteinander arbeiten, umso stärker wächst das Bedürfnis, sich physisch an einem Ort zu treffen. Dieser inneren Veranlassung durch äußere Anlässe auf die Sprünge zu helfen versteht das Stadtmarketing: Musikfestivals, Sportmarathons und inzwischen auch Kunst- und kulturelle Events finden ihr Publikum und funktionieren vor optisch reizvoller Kulisse gleich doppelt so gut, denn die Story ist damit schon gesetzt. Das Jazzfestival im pittoresken Altstädtchen versprüht einen anderen Charme als das im brachliegenden Industrieareal. Auf mittelalterlichen Märkten, Reenactment-Kostümspielen bis zu Manga-inszenierten Parties (live Action-Role-Playing) sind die Mitwirkenden gleichzeitig Darsteller. Festivals mit Innovations-Charakter (Pioneer, Ars Electronica, SXSW) sind die zeitgemäßen Formen von Messen und Infotainment. Und Kulturfestspiele inmitten grandioser Naturschönheit (Bregenzer Festspiele am Bodensee) oder sportliche Triathlons in lokalen Bergen und Gewässern machen die besondere Umgebung zum Teil der Inszenierung. Events haben den Vorteil, Ort, Aktion und persönliches Involvement zu vereinen und können damit quantitativ wie auch qualitativ mehr erreichen. Events bereiten den Boden für die eigene Geschichte.
„Wie“ entscheidet über „Wer“
Festzustellen gilt: Die diffuse Masse aus Pauschaltouristen, erlebnishungrigen Eventbesuchern, naturverbundenen Globetrottern, unternehmungslustigen Bildungsbürgern und vernetzten Individualreisenden – sie alle werden den Ort ihres Begehrens besuchen, zumal sie es finanziell können. Will man dieses Sightseeing-Phänomen irgendwie steuern, kann man höchstens versuchen, die Quantität in Qualität zu verwandeln.
Während aktuell Amsterdam und andere Städte versuchen, die Auswüchse des Tourismus einzudämmen, indem sie Lizenzen nur noch an ausgewählte Läden mit Lokalkolorit vergeben und jegliches Stadtmarketing eingestellt haben, stellen Städte wie Hamburg (nach dem Bau der Elbphilharmonie und den inzwischen schwarzen Zahlen des Kulturbetriebs) fest, dass Tourismus nicht gleich Tourismus bedeutet und man seine Klientel entsprechend seines Angebotes auch in Richtung der eigenen Interessen bezüglich Stadt-, regionaler Wirtschaft und Bürgerinteresse steuern kann. Das impliziert jedoch, dass man sich mit dem Erlebnishunger seiner Gäste und deren Informations- und Medien-verhalten beschäftigt, um dann die richtige Story bezüglich Erwartungshaltung, Entdeckungslust und Selbstdarstellung anbieten zu können.
Birgit Gebhardt
Sie führt Trendentwicklungen zu plausiblen Vorstellungen von Zukunft zusammen. Im Auftrag der Körber Stiftung entwickelte die Trendforscherin in ihrem Buch „2037– unser Alltag in der Zukunft“ ein Lebensszenario unserer Gesellschaft in 20 Jahren. Im Mai sprach sie beim Tourismusforum „Paradise Day“, das im Rahmen der Europäischen Toleranzgespräche 2018 in Villach stattfand.
www.Birgit-Gebhardt.com