Aus der Krise gastronomisch lernen
Corona hat alte Routinen durcheinandergebracht und mögliche neue Gewohnheiten angedeutet. Not macht manchmal erfinderisch. Manchem heißen Foodtrend von 2019 hat Corona zumindest vorübergehend auch den Stecker gezogen. „Wir werden Food neu denken“, sagt Harry Gatterer vom Zukunftsinstitut optimistisch. Und wer das geschickt aufgreife, gehöre zur „New Generation of Business“, in der die Weichen für eine „neue, glokale Food-Wirtschaft der Zukunft“ gestellt werden.
Trend 1: Ghost Kitchen
Das sind Restaurantküchen, die ohne Gastraum auskommen, weil sie nur liefern oder gleich für Food-Delivery-Plattformen produzieren. Manchmal gehören sie auch schon zu den Lieferfirmen, die damit lokal blitzschnell auf sich verändernde Kundenwünsche reagieren können. In Amerika ist Home-Delivery ein Megatrend – auch schon vor Corona. Dort wird mittlerweile über Delivery mehr Essen verkauft als in Restaurants. Was auch daran liegt, dass in den USA viele Restaurants so ungemütlich sind, dass die Leute es vorziehen, daheim zu essen.
Hanni Rützler traut diesem Konzept auch eine Zukunft in Europa zu: Immer mehr Gastronomen fragten sich, warum sie teure Mieten in gut frequentierten Lagen zahlen, Service-Personal anstellen und in die Ausstattung von Gasträumen investieren sollen, wenn der Großteil des Geschäfts in Zukunft ohnehin aus Außer-Haus-Lieferungen besteht. Während Corona hat man das Delivery-Geschäft gelernt. Auch die Kunden. Das wird bleiben. Und das Liefern wird sich auf die Kreation und Rezepte der Speisen auswirken: Die werden so produziert, dass sie sich besser transportieren lassen. Man wird weiter Anleihen aus dem asiatischen Raum nehmen, wo diese Form des Essens eine lange Tradition hat.
Hiesige Restaurants arbeiten spätestens seit Corona mit Lieferplattformen zusammen, die übernehmen oft das Marketing, die technische Abwicklung der Bestellungen und die Logistik. Warum nicht gleich auch noch die Kücheninfrastruktur dazu mieten? Hier bahnt sich ein neues gastronomisches Geschäftsmodell an, das in Übersee schon prächtig floriert. Rützler glaubt, dass die Geisterküchen das Zeug haben auch unsere Gastrobranche gehörig durcheinander zu würfeln. Als konkurrierendes oder ergänzendes Modell.
2. Biodiversity am Teller
Das Corona-Virus ist entstanden, weil wir einen falschen Umgang mit der Natur pflegen. Weil wir unter anderem zu viele Tiere essen, die katastrophal gehalten werden und für ihre Ernährung zu viel Urwald abholzen. Gemeinsam mit der Klimakrise, der wir uns möglichst bald stellen müssen und werden, führt das auch zu einer neuen Wahrnehmung von Essen. Beziehungsweise verstärkt das einen schon bestehenden Trend: Die Landwirtschaft und ihre Produkte, wie wir sie kennen, lehnen immer mehr Menschen ab. Das beeinflusst ihr Kaufverhalten im Supermarkt und ihre Erwartungen von dem, was sie im Restauarnt auf ihrem Teller vorfinden möchten.
Die Spitzengastronomie bedient diesen Trend schon seit einigen Jahren mit raffinierten Kompositionen aus alten und extravaganten Gemüsesorten und Fleischgerichten von selten gewordenen alten Haustierrassen. Damit fördert sie die Artenvielfalt und belebt ihre Speisekarten. Rützler glaubt (oder hofft), dass sich das jetzt auch in der breiten Gastronomie durchsetzen könnte und damit entscheidend dazu beitragen könnte, die heimische noch nicht völlig agrar-industriell organisierte Landwirtschaft zu unterstützen: Hier sind die Stichworte „Brutal lokal“, „glokal“ oder „Farm-to-Table“ bzw. „Third Plate“ (@Dan Barber). Man kann auch viele einst exotische Gemüsesorten wie Artischocken oder asiatische Pflücksalate vor der eigenen Haustür anbauen. Köche können zu „Trendsettern einer neuen, ökologischen Esskultur“ werden. Dazu gehört das richtige Storytelling, Transparenz und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit lokalen Produzenten.
3. Fair Food
Mit einem steigenden Bewusstsein über die Erzeugung unseres Essens hängt auch der Trend zusammen, dass man wirklich wissen will, wo das Essen herkommt. Auch im Restaurant. Da können sich manche Gastronomen und ihre angeblichen Interessensvertreter noch so sehr auf die Hinterbeine stellen: Um eine Herkunftskennzeichnung werden sie bald nicht mehr herumkommen. Einfach weil das die Gäste verlangen. Nicht nur im hippen Szenelokal, sondern auch im Gasthaus am Land oder am Berg. Schummeln mit Billigfleisch und Flüssigei aus der Ukraine wird sich nicht mehr lange ausgehen.
Aber auch offensichtliches (schlechtes) Convenience wird unter Druck geraten. Die Leute wollen für „True Food“ bezahlen, wie das Rützler nennt, frisch gekocht, traditionell erzeugt, nicht aus dem Chemielabor der Lebensmittelindustrie. Und dafür sind sie auch bereit etwas mehr zu bezahlen. Hier werden auch die in den sozialen Medien lautstark vertretenen übrwiegend eher jungen Veganer eine Rolle spielen. Denn sie sind Trendsetter.
4. Gesundes Essen
Die „Gesundesser“ sind auf dem Vormarsch. Die ein ganzheitliches Verständnis von gesunder Ernährung auch außerhaus verwirklichen wollen. Sie legen Wert auf Ausgewogenheit sowie Vielfalt und bevorzugen Gemüse, Hülsenfrüchte und Getreideprodukte. Hier gehören auch die bekannten „Flexitarier“ dazu und nicht zuletzt auch diejenigen mit Unverträglichkeiten und Allergien. Und diese Gruppe ist durch die Erfahrung von Corona sicher nicht kleiner geworden, besonders in der jüngeren Generation, die das Essverhalten der Zukunft prägen wird.
5. Fast Good
Auch wenn Hanni Rützler ihren noch letztes Jahr ausgerufenen Trend zur „Snackification“, also das schnelle, spontane Essen, unabhängig von der Tageszeit, coronabedingt zumindest unterbrochen erklärt, sieht sie doch Anbieter von gesundem Fastfood weiterhin im Auftrieb. Viele kleine Eaterys und Pop-up-Restaurants haben im urbanen Raum das Fastfood neu erfunden – jenseits der gut etablieren Burgerkultur mit asiatischen, spanischen oder levantinischen Kleinigkeiten wie Tapas oder Mezze. Damit bedienen sie auch die wachsende Zahl der „New Worker“, die von zu Hause oder unterwegs arbeiten. Davon gibt es coronabedingt jetzt ziemlich viele. Und die meisten wollen auch nach Corona am liebsten so weiterarbeiten, hört man.
6. Convenience 3.0
Die Menschen kochen coronabedingt wieder mehr zu Hause. Dennoch werden sich nicht alle die Mühe machen, immer frisch zu kochen. Also greifen sie auf Convenienceprodukte zurück, auf fertige oder halbfertige Speisen. Und die müssen nicht aus dem Supermarkt kommen, sondern auch aus dem Restaurant. Oder das Restaurant beliefert den Supermarkt mit Suppen oder Gulasch im Glas. Oder produziert Saucen, Fonds oder Dressings für den anspruchsvolleren Freund des Convenience. Oder sie verkaufen wie das italienische Restaurant „Materia Cucina Essenziale“ Premium-Convenience im Baukastensystem für zu Hause: Menüs zum Selberkochen mit frischer Pasta und Saucen inklusive Kochanleitung.
7. Prädikat hausgemacht
Viele hatten und haben jetzt mehr Zeit. Und nutzen sie, um zu Hause Obst und Gemüse einzulegen, Brot zu backen oder neue Rezepte auszuprobieren. Das tun auch Männer. Besonders die Fermentation ist hipp. Auch für Getränke. Oder man probiert neue Kombinationen aus (Food Pairing). Und liest darüber. Man(n) ist neugierig geworden. Und ist das auch im Restaurant. Wohl dem Küchenchef, der Küchenchefin und dem Sommelier, der Sommeliere die diese (neuen) Bedürfnisse bedienen können. So kann man schnell zum Star werden, zum Rolemodel wie der Peruaner Gastón Acurio, der Israeli Yotam Ottolenghi oder der US-Amerikaner Dan Barber. Man muss es ja nicht wie der durchgeknallte „Corona-Kritiker“ und Koch Attila Hildmann aus Berlin machen.